Jugendliche leiden unter Mobbing in Chats und auf Social-Media-Plattformen – oft, ohne dass es das Umfeld merkt. Die Pandemie hat das Problem noch verschärft. Nun soll die Strafjustiz neue Möglichkeiten erhalten.
«Gott weiss, dass ich geliebt habe. Gott weiss, dass ich verloren habe. Gott weiss, dass ich es versucht habe.» Das sind die letzten Worte, die die 13-jährige Céline auf ihrem Handy speichert, bevor sie sich das Leben nimmt. Céline geriet zuvor auf einer Social-Media-Plattform in einen Konflikt mit einem drei Jahre älteren Mädchen sowie ihrem Ex-Freund. In immer härterer Tonalität wurde Céline angegangen, als unbeliebt und wertlos beschrieben, bedroht. Die Chat-Protokolle, die die Zeitungen von CH-Media damals veröffentlichen, dokumentieren eine erschreckende Dynamik und eine Brutalität der Worte, denen das Mädchen schutzlos ausgeliefert schien. Fünf Jahre sind seit dem Tod von Céline inzwischen vergangen.
Der Suizid von Céline ist mit ein Grund dafür, dass das Parlament seit einiger Zeit über eine Ausweitung der Strafbarkeit von Cybermobbing diskutiert. Die Aargauer SP-Nationalrätin Gabriela Suter will mit einer parlamentarischen Initiative das Strafgesetzbuch um einen neuen Tatbestand ergänzen. Das Gesetz müsse mit der Zeit gehen und allgemein verständliche Straftatbestände enthalten, die den aktuellen Phänomenen entsprächen, argumentiert Suter. Nur so könne es seine präventive Wirkung entfalten. Die Rechtskommission des Nationalrats hat dem Vorstoss bereits deutlich zugestimmt – nun läuft das Vorprüfungs- und Zustimmungsverfahren zwischen den beiden Kammern. Auch andere Vorstösse mit ähnlicher Stossrichtung stehen auf der Traktandenliste.
Hetze ohne Hemmungen
Céline gehörte einer Generation an, die von klein auf mit dem Smartphone und mit den soziale Netzwerken aufgewachsen ist. Für diese Altersgruppe stellen Whatsapp, Instagram und andere Plattformen einen zentralen Ort der Begegnung und des Austauschs dar. Immer stärker verlagert sich die Internetnutzung dabei auf das Smartphone, womit der Nachrichtenstrom praktisch nie abreisst. Hass, Hetze und Hemmungslosigkeit, wie sie in den sozialen Netzwerken ohnehin tagtäglich zu beobachten sind, haben für Kinder und Jugendliche oft erst recht schwerwiegende Folgen: Skrupel und Scham sind im Netz geringer, die soziale Kontrolle versagt, die Anonymität bietet Täterinnen und Tätern Schutz – und dies alles oft, ohne dass das Leid des Opfers erkannt wird.
Die Pandemie, die das Leben noch stärker in die digitale Welt verlagert hat, scheint diese Tendenz weiter verstärkt zu haben: Laut einer repräsentativen Online-Befragung in Deutschland, Österreich und der Schweiz, die im letzten Jahr zum dritten Mal durchgeführt wurde, hat Cybermobbing im Vergleich zu 2018 um 25 Prozent zugenommen. Zwar untersuchte die Studie nur Mobbing gegenüber Erwachsenen. Trotzdem lässt sie Rückschlüsse auf die Jugend zu. So ist in keiner anderen Altersgruppe ein derart starker Anstieg zu verzeichnen wie in jener der 18- bis 24-Jährigen. Jede zweite befragte Person im Alter bis zu 25 Jahren gab an, bereits Opfer von Cybermobbing geworden zu sein.
Auch andere Zahlen belegen, dass Cybermobbing mit der Zunahme des Handy-Konsums zu einem verbreiteten Phänomen geworden ist. Jede zehnte 12- bis 13-jährige Person gab in einer Untersuchung der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW) von 2020 an, bereits Opfer von Cybermobbing gewesen zu sein. Ein Viertel der Jugendlichen hat es schon erlebt, im Internet fertiggemacht zu werden. Das Hochladen von Fotos oder sexuelle Belästigungen sind gemäss der Studie ebenfalls gang und gäbe. Frauen sind dabei besonders oft betroffen: Mehr als die Hälfte der Mädchen hat gemäss der ZHAW-Studie schon unerwünschte sexuelle Anmache im Netz erlebt.
Immer mehr Anzeigen und Verurteilungen
Als Folge verzeichnet auch die polizeiliche Kriminalstatistik der letzten Jahre einen entsprechenden Anstieg: Die Zahlen der Anzeigen wegen übler Nachrede, Verleumdung, Beschimpfung oder Drohung haben sich in den letzten zehn Jahren allesamt praktisch verdoppelt. Auch hier wird – neben einer möglichen Veränderung des Anzeigeverhaltens – die zunehmende Aggression im Netz als Treiber für die Entwicklung gesehen. Bei der Verurteilungsstatistik zeigt sich ein ähnliches Bild, zumindest im Erwachsenenstrafrecht.
Solche Zahlen belegen zwar, dass Täterinnen und Täter schon heute nicht damit rechnen dürfen, straflos davonzukommen. Für Nationalrätin Suter genügt das geltende Strafrecht dennoch nicht. Die bisherigen Tatbestände seien nicht auf die Besonderheiten des Cybermobbings, sondern auf klassische Einzelhandlungen ausgelegt. Das mache den Umgang für die Strafverfolger schwierig, argumentiert sie: «Bei Cybermobbing ist es eher eine Vielzahl von Verhaltensweisen und Handlungen, die in ihrer Gesamtheit auf das Opfer einwirkt.»
Wie ein neuer Tatbestand aussehen könnte, führt Suter in ihrer parlamentarischen Initiative allerdings nicht aus. Ganz einfach dürfte es aber nicht werden, wie die Rechtskommission des Nationalrates bereits im letzten Sommer festgestellt hat: «Nur den Begriff Cybermobbing im Strafgesetzbuch aufzuführen, löst die Nöte der Betroffenen nicht», konstatierte sie und forderte den Bundesrat auf, einen Bericht mit entsprechenden Lösungsvorschlägen auszuarbeiten. Die Rechtskommission möchte diesen Bericht abwarten, bevor sie über das weitere Vorgehen berät. Das hat sie am Freitag entschieden.
Österreich hat bereits gehandelt
Auch in anderen Länder wird diese Diskussion geführt. Österreich kennt beispielsweise seit 2016 einen Tatbestand für Cybermobbing. Das ging nicht ohne Anlaufschwierigkeiten: Das Gesetz musste schon kurz nach Inkrafttreten nachgebessert werden. Gemäss dem ursprünglichen Wortlaut, wonach die Strafbarkeit von der «fortgesetzten Dauer» des Mobbings abhing, wäre das einmalige Posten von Nacktbildern einer anderen Person nicht unter den Straftatbestand gefallen – was kaum dem Sinn der Sache entsprach.
Solche Schwierigkeiten zeigen, wie anspruchsvoll es ist, vielschichtige Phänomene wie das Cybermobbing rechtlich präzise, aber dennoch umfassend zu regeln. Unklar ist auch, welcher Zweck mit einem neuen Straftatbestand abseits von blosser Symbolik erreicht werden soll. Denkbar wäre allenfalls, die besondere Bedeutung von Bildern beim Cybermobbing gesetzlich stärker zu betonen. Auch eine Verfolgung von Amtes wegen – statt wie heute in den meisten Fällen nur auf Antrag – wäre möglich, ebenso eine Ausweitung des Strafrahmens. Das österreichische Gesetz sieht eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren vor, falls es als Folge der Tat zu einem Suizid oder einem Suizidversuch kommt.
Auf dem Papier entspräche eine solche Bestimmung präzise dem Fall von Céline. Ob die Strafverfolger mit einer Revision des Strafgesetzbuches wirklich eine bessere Handhabe gegen Cybermobbing hätten, bleibt jedoch dennoch fraglich. Im Falle von Céline kam es auch ohne Spezialtatbestand zu Sanktionen. Einen direkten Zusammenhang zwischen dem Mobbing und dem Suizid des Mädchens konnte die Justiz schliesslich aber nicht erkennen. Wie so oft erwiesen sich die Erwartungen an die Macht des Strafrechtes als riesig – die Wirkung bei der Bewältigung eines unfassbaren Schicksalsschlages bleibt für die Betroffenen aber nicht selten enttäuschend gering.
Quelle: www.nzz.ch
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