Am Mittwoch verurteilte das Jugendgericht Dietikon einen Jugendlichen zu einem viertägigen Arbeitseinsatz. Er hatte eine 13-Jährige genötigt, ihm erotische Bilder zu schicken. Das Urteil versteht kein Mensch ausserhalb der Justiz.
Als Aussenstehender kann man nicht verstehen, was die 13-jährige Céline im Sommer 2017 durchmachte, als ihre Liebe und ihr Leben zerbrachen. Alle konnten online zuschauen, aber helfen konnte ihr niemand.
Als Aussenstehender kann man nicht verstehen, was die Eltern durchmachten, als sie ihre einzige Tochter und den Sinn ihres Lebens verloren.
Als Aussenstehender kann man nicht verstehen, wie die Justiz mit dem Fall umgeht.
Unverständlich ist, wie viel Zeit verloren gegangen ist. Bei der Tat war ein Täter 14, nun ist er 17. Bis heute wurde er nicht bestraft, weil die Strafe noch nicht rechtskräftig ist. Die Polizei brauchte ein halbes Jahr, um herauszufinden, was überhaupt passiert war, weil sie die Handys nicht selber auswerten konnte. Danach verstrich ein ganzes Jahr, bis die Jugendanwaltschaft die Strafbefehle ausstellte. Danach verging nochmals ein Jahr, bis das Jugendgericht wegen der Einsprache von Célines Eltern eine Verhandlung durchführte.
Das Jugendstrafrecht soll erziehen statt strafen. Mit zweieinhalbjähriger Verspätung nützt aber die beste Erziehung nichts.
Was ist schlimmer? Unfreiwillig nackt im Netz? Oder ein erzwungener Zungenkuss?
Unverständlich sind die Begriffe, die vor Gericht diskutiert wurden. War es eine Nötigung oder eine sexuelle Nötigung? Eine Nötigung bedeutet, dass man einer Person Übles androht, damit sie irgendeine Handlung ausführt. Bei einer sexuellen Nötigung ist es eine sexuelle Handlung. Ein erzwungener Zungenkuss gilt schon als sexuelle Handlung, nicht aber das Erzwingen einer erotischen Aufnahme. Was ist schlimmer? Unfreiwillig halbnackt im Netz zu stehen oder eine fremde Zunge im Mund zu haben? Die Diskussion führt nirgends hin, weil das Strafmass dasselbe bleibt. Die Höchststrafe für unter 15-Jährige ist eine persönliche Leistung von zehn Tagen, egal ob es um Mord, Vergewaltigung, sexuelle Nötigung oder Nötigung geht.
Unverständlich ist, dass der Gerichtspräsident in der Urteilsbegründung betonte, es handle sich nicht um einen Fall von Cybermobbing. Aus seiner Perspektive mag das stimmen. Er untersuchte nur einen Teil der Geschichte, die Nötigung gegenüber Céline, ein erotisches Bild von sich zu erstellen. Cybermobbing fand erst danach statt, als eine weitere Jugendliche das Bild über Snapchat verbreitete. Die Jugendanwaltschaft hat daraus zwei Fälle gemacht, die von zwei Strafverfolgern separat untersucht wurden. Beide sahen ein Puzzlestück, aber nicht das ganze Bild.
Strafen am falschen Ort: Aus Büroarbeit lernt man nichts
Unverständlich sind die Strafen. Die heute 19-jährige Täterin, die das Bild verbreitete und Céline blossstellte und beleidigte, musste ein paar Tage auf der Jugendanwaltschaft Büroarbeiten erledigen. Der heute 17-jährige Täter, der Céline zum Selfie nötigte, muss vier Tage gemeinnützige Arbeit verrichten. Ob er ein Schulhaus putzen muss oder ebenfalls die Zeit in einem Büro absitzen kann, ist nicht bekannt. Beides ist der falsche Ansatz, weil der Zusammenhang zur Tat fehlt. Wie wär's mit einem Arbeitseinsatz auf einer Alp ohne Internetverbindung?
Ein bisschen Verständnis hat das Gericht allerdings geschaffen, indem es Journalisten zu einem Teil der Verhandlung zugelassen hat. Normalerweise finden Jugendstrafverfahren hinter geschlossenen Türen statt. Auf eine Eingabe dieser Zeitung hat das Gericht eine Ausnahme gemacht. Transparenz ist ein erster Schritt zu mehr Verständnis.
So zeigte die Gerichtsverhandlung auf, dass ein eigener Straftatbestand gegen Cybermobbing nichts bringen würde, wie dies Célines Eltern fordern. Das Gericht hätte diesen ohnehin nicht angewendet, weil es kein Cybermobbing sehen konnte.
Die Grundlagen für geeignete Massnahmen sind eigentlich vorhanden. Sie müssten nur besser und schneller angewendet und verständlicher kommuniziert werden.
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