Wie stark Cybermobbing unter Jugendlichen grassiert, zeigt eine aktuelle Studie. Auch Lehrer und Schüler aus Dietzenbach berichten von Fällen – und aus eigener Erfahrung.
Dietzenbach DE – Nach zehn Minuten kommt das zwölf Jahre alte Mädchen der Ferienspiele zum Reporter und bittet darum, die gemachten Fotos zu löschen. Und als an der Obertshausener Hermann-Hesse-Schule beim Schulfest im Sommer zwei Mädchen für ihr Titelbild für den Adventskalender der Stadt geehrt werden, laufen sie danach sofort weg. Bloß keine Fotos.
Waren nicht nur junge Leute früher stolz, wenn sie von der Zeitung fotografiert worden sind, haben heute viele Angst davor. Denn jedes Bild, was öffentlich zirkuliert, ist eine potenzielle Gefahr. Es kann von anderen verunstaltet oder missbraucht und dann im Internet verbreitet werden, um jemanden bloßzustellen oder zu verhöhnen. Cybermobbing ist der Begriff dafür, also die Schikane von Menschen über digitale Kommunikationskanäle, vor allem über die sozialen Medien oder einen Nachrichtendienst wie Whatsapp.
Lehrer und Schüler berichten von Cybermobbing an Dietzenbacher Schulen
Und diese Schikane grassiert unter jungen Leuten, also Schülern. „Auch früher wurde gemobbt, aber heute ist alles viel ernsthafter. Man will den anderen bestrafen, man will ihn fertig machen“, sagt Uwe Leest, Vorstandsvorsitzender vom Bündnis gegen Cybermobbing (Karlsruhe). Am Mittwoch hat der gemeinnützige Verein seine nunmehr fünfte bundesweite Studie über Cybermobbing bei Schülern vorgestellt. Die Krankenkasse Barmer ist Kooperationspartner.
Demnach sind etwa zwei Millionen Schüler in Deutschland mindestens einmal Opfer von Cybermobbing geworden, 200. 000 mehr als in der Studie aus dem Jahr 2022. Und weiter: Laut Kriminalstatistik wurden 2023 etwa 29. 000 Kinder, Jugendliche und Heranwachsende bis 21 Jahren Opfer einer Straftat. Im selben Zeitraum wurden insgesamt rund 400. 000 polizeilich erfasste Straftaten mit dem Tatmittel Internet begangen. Aber die besorgniserregendste Zahl ist diese: Ein Viertel der von Cybermobbing betroffenen Kinder und Jugendlichen hatte deswegen Suizidgedanken, in absoluten Zahlen entspricht das etwa 500 .000 Schülern. Suizid gehört in der Altersgruppe der 15- bis 25-Jährigen zu den häufigsten Todesursachen in Deutschland.
Ein Viertel der von Cybermobbing betroffenen Kindern und Jugendlichen mit Suizidgedanken
Die Geschichte mit den Schülerinnen, die nicht fotografiert werden wollen, bestürzt Leest. „Wir haben ein gesellschaftliches Klima geschaffen, das den Menschen verängstigt.“ Wer mit Leni Hazelhof spricht, erfährt Gründe für diese Angst. Plötzlich werden junge Leute als Streber gebrandmarkt, „Erfolg wird dann etwas Negatives“, sagt die Kreisschulsprecherin Offenbach.
Die 18 Jahre alte Gymnasiastin an der Heinrich-Mann-Schule in Dietzenbach hat vor der Öffentlichkeit keine Angst. Ja, auch sie hat eigene Erfahrungen mit Cybermobbing gemacht. Das ist ein paar Jahre her, damals ging es um „falsche“ Kleidung, also Modemarken, die damals nicht dem Zeitgeist entsprachen. Heute gehe es mehr um Meinungen, sagt Hazelhof. „Jede Klasse hat mittlerweile einen Gruppenchat per Whatsapp. Und wenn dort eine Meinung mitgeteilt wird, die nicht der Mehrheit entspricht, wird gegen diese Person geschossen.“
Whatsapp wird schon von 11-Jährigen genutzt – Cybermobbing an Dietzenbacher Schulen
Beim Thema Whatsapp gerät Bettina Knop schnell in Rage. Sie berichtet von Elfjährigen, die sich gegenseitig massenhaft Nachrichten schickten. Dabei schreibt der Messengerdienst in seinen Nutzungsbedingungen ein Mindestalter von 13 Jahren vor. Doch wer will das nachprüfen – oder ansprechen? Knop tut das, wenn sie mit Eltern der Kinder redet. Und als stellvertretende Leiterin der Heinrich-Mann-Schule redet Knop viel mit Eltern – auch über das Thema Cybermobbing. Als „Vollkatastrophe“, beschreibt die Lehrerin die allgemeine Lage.
Aus Fotos von Jugendlichen werden Sticker gemacht, also lustige oder peinliche Bildchen, die dann in Windeseile übers Internet verbreitet werden. Das kann man noch mit Humor nehmen – wenn die Sticker so gemeint sind. Doch wenn sie bösartig gestaltet werden, kann es zerstörerisch wirken.
Hetze im Netz – mehr Brutalität bei Cybermobbing
Gewiss, Mobbing unter Schülern ist kein neues Phänomen. Auch in der analogen Zeit wurde gemobbt. Die „Brillenschlange“, der Übergewichtige oder derjenige, der im Sportunterricht hilflos an der Sprossenwand hing – das waren klassische Mobbingopfer. Aber beleidigt wurde fast nur auf dem Schulhof. Doch das Internet ermöglicht heute eine tägliche 24-Stunden-Frequenz. Die Pädagogin Knop sagt, dass die Hetze gegen andere durch das Internet nicht zu greifen sei. „Die Brutalität ist viel heftiger, als wenn Sie jemandem in der realen Welt gegenüber sitzen.“
Für Uwe Leest ist diese Entwicklung auch eine Folge der veränderten Kommunikation in der Gesellschaft. Er spricht von einem Klassiker, wenn eine Familie mit dem Auto in den Urlaub fährt, und die Kinder auf der Rückbank sich Textnachrichten schicken, anstatt miteinander zu sprechen. „Das ist eine verrückte Welt geworden.“ Und wer sich anderen eh nur noch per Smartphone mitteilt, schickt dann eben auch noch schnell ein paar Beleidigungen in einen anderen Kanal.
Selbstoptimierte Auftritte in den sozialen Medien
Wie sich junge Leute vor Beleidigungen schützen, beschreibt Schulsprecherin Hazelhof. Viele würden darauf achten, wie sie sich im Internet präsentieren, wie sie gesehen werden wollen. „In den sozialen Medien findet eine Idealisierung des persönlichen Alltags statt.“ Instagram ist dabei der Kanal der jungen Leute. Auf Facebook streiten sich dagegen Menschen, die noch mit D-Mark bezahlt oder „Derrick“ geschaut haben.
Zur Instagram-Strategie gehören zwei Profile. Ein Öffentliches, auf dem man sich selbstoptimiert darstellt. Das andere zeigt die private, ehrliche Welt – und in die werden nur ausgewählte Menschen hineingelassen. Hazelhof hat nur ein Profil, „aber das ist rein privat“. Selbstschutz als Notwendigkeit.
Rezept von Pädagogin Knop: „Die Betroffenen stärken“
In der Cybermobbing-Studie heißt es weiter, dass in der Wahrnehmung der Schüler ihre Schulen viel zu wenig gegen das grassierende Problem unternehmen würden. Für die Heinrich-Mann-Schule könnte das nicht gelten. Bettina Knop spricht von einer guten Sozialarbeit an der Einrichtung, und sie beschäftigt sich auch selbst mit betroffenen Schülern. „Wir müssen die Betroffenen stärken“, sagt sie. Jeder Fall müsse einzeln betreut werden. Manchmal hilft eine Standpauke für die gesamte Klasse, manchmal eine diskrete Betreuung.
Offensichtlich haben die meisten Opfer ohnehin ein schwieriges Leben, sind weniger selbstbewusst – das ist eine weitere Studienerkenntnis. Wohin das dann durch Mobbing führen kann, weiß Leni Hazelhof genau. Auch sie kennt junge Leute mit Suizidgedanken, Depressionen oder dem Drang zur Selbstverletzung, etwa durch Ritzen, etwa mit Fingernägeln, Messern oder Glasscherben.
Junge Leute wünschen sich ein Gesetz gegen Cybermobbing
Am Ende bleibt die Frage, wie die Gesellschaft gegen Cybermobbing vorgehen kann. Mit einem Gesetz, wie es sich laut Studie die Mehrheit der befragten Schüler wünscht? In Frankreich drohen Tätern mittlerweile bis zu zehn Jahren Gefängnis. Bei weniger schweren Fällen müssen Mobber die Schule wechseln. Der Nachbarstaat geht so rabiat die digitale Schikane vor, weil dort schätzungsweise jedes zehnte Schulkind darunter leidet.
In Deutschland ist Cybermobbing noch kein Straftatbestand, doch das Strafgesetzbuch bietet Möglichkeiten, Täter zu belangen, etwa wegen Beleidigung oder Verleumdung. Doch juristischen Mühlen haben damit gut zu tun. Wenn allein der grüne Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck zuletzt 700 Strafanzeigen wegen Beleidigungen im Internet gestellt hat, zeigt das, welche Wucht dieses Thema hat. Doch eine zwölfjährige Schülerin denkt erst einmal nicht an eine Strafanzeige. Sie vermeidet sicherheitshalber, in der Lokalzeitung abgebildet zu werden. (sge)
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