STUTTGART. Kinder und Jugendliche sind hilflos ausgeliefert – und Schulen überfordert: Einer aktuellen Erhebung zufolge sind fast ein Fünftel aller Schülerinnen und Schüler in Deutschland von Cybermobbing betroffen. Das entspricht mehr als zwei Millionen junger Menschen. Was tun? Unser Gastautor Uli Black, ein erfahrener Lehrer aus Baden-Württemberg, sieht die Politik in der Verantwortung. Er beschreibt im Folgenden aber auch Möglichkeiten, die sich in der schulischen Praxis als hilfreich erwiesen haben.
Cybermobbing ist zum Massenphänomen geworden
Cybermobbing: Von der sozialen Verwahrlosung einer ganzen Generation
„Wenn du fette Sau 10 Kilo abnimmst, ist das so, wie wenn ein Panzer sein Nummernschild verliert.“ Die Schüler stehen im Pulk zusammen und schütteln sich vor Lachen. Alle glotzen in ihre Smartphones. Haben sie ein lustiges Katzenvideo gesehen? Oder einen Witz gehört? Nein, sie sind auf der Insta-Seite einer Mitschülerin und lesen sich die dort abgegebenen Kommentare gegenseitig vor. „Fette Sau“ ist dabei noch relativ harmlos. „Fotze“ und „Hure“ scheinen sich besonderer Beliebtheit zu erfreuen. Aber nur bei den anonymen Hetzern. Das ohnmächtige Opfer selbst, das diese Kommentare mit Tränen in den Augen alleine in einer Ecke des Schulhofes stehend liest, ist gerade dabei, den Boden unter den Füßen zu verlieren.
Laut einer aktuellen Studie des Bündnisses gegen Cybermobbing vom Oktober 2024 gaben bei einer bundesweiten repräsentativen Umfrage unter Jugendlichen im Alter zwischen 12 und 20 Jahren 18,5 Prozent der befragten Schülerinnen und Schüler an, Opfer von Cyberattacken gewesen zu sein (News4teachers berichtete). Ausgrenzung, Mobbing und Cybermobbing unter Jugendlichen hat sich in den letzten Jahren in der Gesellschaft potenziert. Laut der Studie sind mindestens zwei Millionen Schüler in Deutschland in den zurückliegenden beiden Jahren Opfer von Cybermobbing geworden.
Das Erschreckende: In den meisten Fällen ist der Tatort die Schule. “Mittlerweile sagen fast 70 Prozent der Lehrer, dass sie diesem Thema an der Schule nicht mehr gewachsen sind. 2022 sagten das nur 42 Prozent“, meint Uwe Leest vom Bündnis gegen Cybermobbing.
Dieser negativen Entwicklung muss unsere Gesellschaft Rechnung tragen, aber wie will sie ihrer Herr werden? Und wer soll das leisten? Und wie? Neben dem Elternhaus fällt vor allem Lehrern eine besondere Aufgabe zu, die Jugendlichen vor dieser Art von digitaler Gewalt zu schützen, bei der es um viel mehr geht als um eine persönliche Auseinandersetzung zwischen Jugendlichen, wie sie es schon immer gab. Hier liegt eine völlig andere, anonyme Art der Konfrontation vor.
Der Hauptverbreitungsweg von Hass und Häme scheint dabei WhatsApp zu sein (77 Prozent), gefolgt von TikTok (57 Prozent), Snapchat (50 Prozent) und Instagram (45 Prozent). Allesamt soziale Medien, die die Möglichkeit schaffen, jemanden anzugreifen, ohne ihm dabei in die Augen sehen zu müssen. Die Gefahr, Täter oder selbst Opfer zu werden, ist groß. Laut der JIM-Studie 2023 sind Jugendliche durchschnittlich 224 Minuten täglich im Netz unterwegs.
Aufgrund der Anonymität der Täter und der daraus resultierenden Ohnmacht stürzen viele Opfer des Cybermobbings in eine tiefe Depression. Jeder vierte befragte Jugendliche hat bei der Cybermobbingstudie angegeben, schon einmal Suizidgedanken gehabt zu haben aufgrund des Mobbings. Das sind 500.000 Schülerinnen und Schüler, die überlegt haben, ob sie sich das Leben nehmen sollen, weil sie den Druck aus den sozialen Netzwerken nicht mehr aushalten.
Wie reagiert die Politik darauf? Bereits im Jahre 2004 gab der Bildungsplan in Baden-Württemberg Methoden-, Sach- und Fachkompetenzen in Bezug auf Medienbildung vor, die den Schülern vermittelt werden mussten. Man setzte also auf Aufklärung und Information, jedoch ohne Erfolg. Die Fälle von Cybermobbing nahmen seitdem weiterhin zu, ohne einen erkennbaren Kurswechsel seitens der Verantwortlichen.
Mit der Bildungsreform 2016 wurde ein Basiskurs „Medienbildung“ verbindlich für alle 5. Klassen an Gymnasien in Baden-Württemberg eingeführt, wo erneut vor allem „digital gestütztes Lernen“ in den Mittelpunkt gestellt wurde. In der Präambel wurde zwar fast schwärmerisch davon geredet, dass „digitale Medien neue schöpferische Prozesse erlauben“ und den „Erwerb der Kompetenz zur Nutzung digitaler Arbeitsmittel- und Techniken“ fördern, aber mit keiner Silbe wurden die lauernden Gefahren, die das Internet bietet, erwähnt. War das naiv oder fahrlässig?
Im Zuge der erneuten Bildungsreform 2024 und der Rückkehr zu G9 wird es nun ab dem Schuljahr 2025/26 ein neues Fach an allen weiterführenden Schulen geben, das verpflichtend für alle Schüler von Klasse 5 bis Klasse 11 unterrichtet wird: Medienbildung und Informatik. Gegen Ende des letzten Schuljahres wurden die Schulen vom Kultusministerium darüber in Kenntnis gesetzt. Ziel sei, sagt Kultusministerin Schopper (Grüne), junge Menschen auf die Anforderungen einer digitalisierten Welt vorzubereiten und zugleich „den Unterricht mithilfe digitaler Technologien und Medien anschaulicher, vielfältiger und individueller zu gestalten“. Auch hier vermisst man den expliziten Hinweis auf die akuten Gefahren, die Social Media mit sich bringen.
Gegen die geplante Koppelung von Medienbildung mit Informatik wehren sich unter anderem der Philologenverband BW und der Informatiklehrkräfteverband BW, die sich gegen die Vermischung der bisher eigenständigen Fächer aussprechen. Informatik behandele technische Grundlagen und Funktionsweisen digitaler Systeme, Medienbildung dagegen befasse sich als Querschnittsaufgabe mit der verantwortungsvollen Nutzung dieser Systeme. Daher müssten die beiden Bereiche getrennt werden. Einmal mehr scheint es bei solch einem wichtigen Thema weniger um die Sache, nämlich den Schutz der Betroffenen, zu gehen, als um die Befindlichkeiten von Verbänden.
Dies ist jedoch nicht der einzige Kritikpunkt. Infolge des neuen Faches wird das im Schuljahr 2018/2019 für die Klassenstufen 8 bis 10 an allgemeinbildenden Gymnasien eingeführte Profilfach Informatik, Mathematik und Physik (IMP) wegfallen. Dieses vor allem bei Jungen sehr beliebte Fach hatte zum Ziel, eine auf die MINT-Fächer ausgerichtete Berufs- und Studienwahl der Abiturienten zu unterstützen.
Der Wegfall des Faches IMP ist nicht nur ein Schlag ins Gesicht der vielen Schüler, die ihre Begabung weniger in Sprachen als im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich sehen, sondern auch für die vielen Lehrkräfte, die mit hohem Zeit- und Energieaufwand für das Fach IMP fortgebildet wurden. Das ist jetzt alles Schnee von gestern und die Suche nach geeigneten und motivierten Pädagogen beginnt von Neuem. Schon jetzt herrscht ein großer Mangel an Lehrern, die für das Fach Informatik infrage kommen. Durch die Einführung des verpflichtenden neuen Fachs Medienbildung und Informatik wird eine große Anzahl an Fachlehrern benötigt werden, die einfach nicht vorhanden sind. Infolge wird es erneut zu einer Schnellbeize von IT-Lehrern kommen, die man letzten Endes notgedrungen aus allen Fachbereichen akquirieren wird.
Die Vergangenheit hat gezeigt, dass die vom Ministerium fokussierte Informations- und Aufklärungstaktik bei den Schülern keine erkennbare Wirkung zeigt
Sollten sich nicht genügend Freiwillige melden, wird es mal wieder zu einer dienstlichen Fortbildungsverpflichtung kommen, was die angespannte Stimmung in den Kollegien weiter anheizen wird. Die Klagen der Lehrer sind so alt wie vielfältig: Permanenter Zeitdruck und kaum Rückzugsmöglichkeiten, Schüler und Eltern bei Laune halten, den Unterricht interessant gestalten, jeden individuell fördern und den Lehrplan einhalten, dabei das Leistungsprofil der Schule erfüllen und immer Engagement zeigen. Das alles am besten bei möglichst geringen Fehlzeiten und guter Laune, auch in stressigen Situationen. Es bleibt abzuwarten, wie das Ministerium diese erneuten Personallücken füllen wird, nachdem schon das 2023 gestartete millionenteuere Anwerbungsprogramm „Keinen Bock auf Arbeit? Hurraa, werde Lehrer*in“ nach hinten losging und bundesweit für Spott und Häme sorgte.
Doch zurück zum eigentlichen Kern des Problems, dem Cybermobbing. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass die vom Ministerium fokussierte Informations- und Aufklärungstaktik bei den Schülern keine erkennbare Wirkung zeigt, wie der deutliche Anstieg der Mobbingopferzahlen belegt. Auch andere, an vielen Schulen praktizierte Maßnahmen wie Handyverbot im Schulgebäude, erweisen sich als unzureichend, da das Mobbing dann außerhalb des Unterrichts stattfindet.
Als deutlich effektivere Methode hat sich an unserer Schule die unmittelbare Konfrontation von Opfern mit (potentiellen) Tätern herausgestellt. Wer anderen mit Respekt und Empathie begegnet, wird diese mit großer Wahrscheinlichkeit nicht beleidigen oder dissen. Aber Respekt und Empathie lernt man nicht in der Theorie, sondern nur in praktischer Anwendung. Die Mediation ist ein sehr wirksames Mittel, um Mobbing zu vermeiden oder zu reduzieren, sowohl präventiv wie rehabilitativ.
Schwieriger wird es, wenn der Täter anonym bleibt. Aber auch hier gibt es geeignete Maßnahmen. Jeder Klassenlehrer sollte pro Woche mindestens eine Stunde zur Verfügung haben, in der in praktischen Übungen, Rollenspiel und offenen Gesprächen mit Betroffenen unmittelbar die Bedeutung und Auswirkung von Cybermobbing reflektiert wird. Darüber hinaus muss die Zahl an Schulsozialarbeitern und Schulpsychologen drastisch gesteigert werden. Wir müssen digitaler Gewalt an Schulen endlich die Aufmerksamkeit widmen, die sie fordert. Zur Erinnerung: 2 Millionen junger Menschen zwischen 12 und 20 Jahren wurden in den letzten beiden Jahren Opfer von digitaler Gewalt! Tendenz steigend.
Damit kommt ein Tsunami traumatisierter Jugendlicher auf unsere Gesellschaft zu, die früher oder später therapiert werden müssen. Im besten Fall. Wenn man sich der Frustrations-Aggressions-Hypothese anschließt, nach der auf jede Frustration eine Aggression folgt, werden sich diese Opfer entweder selbst oder anderen gegenüber aggressiv verhalten, was die Täter-Opfer-Quote bald ins Unermessliche ansteigen lässt. Aktuelle Studien zu aggressivem Verhalten Jugendlicher zeigen deutlich, in welche Richtung das geht. Auch unter der Lehrerschaft wird sich dies mit zunehmender Krankheitsquote und Burnout bemerkbar machen. An „regulären“ Unterricht ist dann bald nicht mehr zu denken.
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