Die hinterbliebenen Eltern im Fall Céline wollen auch nach dem Urteil in Dietikon weiterkämpfen
Im Fall Céline bestätigt das Jugendgericht Dietikon den Strafbefehl gegen einen jungen Mann. Für die Eltern ist die Geschichte damit nicht erledigt. Sie fordern einen Strafartikel gegen Cybermobbing.
Mittwochmittag in Dietikon. Eine Gruppe von etwas mehr als einem Dutzend dezent gekleideter Frauen und Männer zieht vom Bahnhof an der Busstation vorüber, einige mit eingezogenem Kopf wegen des kalten Winds. Kameraleute und Fotografen erwarten sie und verfolgen mit, wie der stille Zug über den Fussgängerstreifen zum Bezirksgebäude schreitet.
Es sind die Eltern, Angehörige und Freundinnen von Céline Pfister, dem Mädchen aus Spreitenbach AG, das sich im Sommer 2017 im Alter von 13 Jahren das Leben genommen hat. Sie haben sich versammelt, weil das Jugendgericht Dietikon an diesem Mittwoch eine Handvoll Text- und Bildnachrichten zu beurteilen hat, die ein Jugendlicher dem Mädchen damals geschickt hatte.
Der sogenannte Fall Céline geht allerdings weit darüber hinaus. Denn wie sich nach ihrem Hinschied herausstellte, war die Jugendliche über ihr Smartphone mit wüsten Beschimpfungen, Drohungen und Druckversuchen eingedeckt worden, und die Frage, die bald danach auftauchte, lautete: War dieser Suizid eine Folge von Mobbing im Cyberspace?
Die Antwort der Jugendanwaltschaft lautete Nein. Sie ermittelte zwar gegen zwei Jugendliche und stellte ihnen je einen Strafbefehl aus. Laut Sarah Reimann, der Sprecherin der Oberjugendanwaltschaft, waren die Delikte aber nicht ursächlich für Célines Tod: «Gemäss den Erkenntnissen der Jugendanwaltschaft kann der tragische Suizid nicht auf das Handeln der Beschuldigten zurückgeführt werden.»
Bei den bestraften Teenagern handelt es sich um eine junge Frau und einen Burschen aus dem Limmattal. Sie, die zur Tatzeit 16 Jahre alt war, wurde wegen versuchter Drohung und Beschimpfung rechtskräftig sanktioniert. Der damals 14-jährige Jugendliche erhielt einen Strafbefehl wegen Nötigung und Pornografie.
Als Nötigung werteten die Strafverfolger im Fall des Teenagers, was sich Anfang August 2017 in einem Whatsapp-Chat zwischen ihm und Céline abgespielt hatte. Er forderte das verliebte Mädchen damals unverfroren dazu auf, ihm weitere erotische Fotos zu schicken, sonst werde er früher erhaltene Bilder weiterleiten. Mit «yk (you know, Red.) how it works» unterstrich er seine Aufforderung und schrieb später auch, an wen er die Aufnahmen weiterleiten würde: an die 16-jährige Kollegin. Aus Angst davor sandte Céline ihm intime Bilder via Snapchat zu, heisst es im Strafbefehl.
Verurteilt wurde der Junge zudem wegen pornografischer Selbstaufnahmen, die er in den Monaten zuvor gesendet hatte. Welche Sanktion die Jugendanwaltschaft verfügt hat, ist dem ausgehändigten Strafbefehl nicht zu entnehmen. Dies, weil in Strafverfahren gegen Minderjährige erhöhte Anforderungen an den Persönlichkeitsschutz gelten.
Eine völlig andere Deutung als diejenige der Staatsanwaltschaft findet sich allerdings in etlichen Medienberichten, die in den letzten zweieinhalb Jahren über die Ereignisse verfasst wurden. Mehr oder weniger deutlich wird eine direkte Verbindung zwischen dem Drama im virtuellen Raum und dem Selbstmord hergestellt – wenn es nicht gar heisst, es sei der «erste bekannte Fall von Cybermobbing in der Schweiz, der auf derart tragische Weise geendet hat» («Aargauer Zeitung»).
Nach dieser Darstellung waren die Nachrichten Teil eines lang andauernden, massiven Cybermobbings. Dieses eskalierte, als der Bursche das erotische Foto nicht etwa für sich behielt, sondern ein paar Tage später nach einem Streit an seine ehemalige Freundin, die zweite Beschuldigte, weiterleitete. Eifersüchtig stellte sie Céline daraufhin bloss, indem sie das Bild auf Snapchat postete, wo es vor dem Löschen Hunderte Personen sehen konnten.
Auch für die Eltern des Mädchens ist klar, dass es letztlich Opfer einer Mobbing-Attacke geworden ist. Sie wandten sich vor einigen Monaten an die Öffentlichkeit und haben sich ganz dem Engagement gegen Cybermobbing verschrieben. So empfingen sie ein Fernsehteam der «Rundschau», standen Journalisten Red und Antwort, willigten in die Nennung des vollen Namens ihrer Tochter ein und traten in Winterthur an der Famexpo auf, um auf ihr Anliegen aufmerksam zu machen. Zudem fochten sie den Strafbefehl gegen den mittlerweile jungen Mann an und forderten eine Verurteilung wegen sexueller Nötigung.
Deshalb musste sich das Jugendgericht Dietikon am Mittwoch mit dem Fall befassen. Normalerweise finden solche Verhandlungen zum Schutz der jungen Personen hinter verschlossenen Türen statt. In Ausnahmefällen kann ein Gericht aber Vertreter der Öffentlichkeit zulassen. Zum Beispiel wenn das öffentliche Interesse es gebietet und dies den Interessen des beschuldigten Jugendlichen nicht zuwiderläuft, wie es in der Jugendstrafprozessordnung heisst. So durften Journalisten etwa am Prozess gegen ein Winterthurer Geschwisterpaar, das in den Jihad gezogen war, zeitweilig teilnehmen.
Auch in Dietikon waren Journalisten zugelassen, allerdings nur dann, wenn keine persönlichen Details erwähnt wurden. So zum Beispiel beim Plädoyer, das der Anwalt der Eltern hielt. Er räumte zu Beginn ein, dass kein justiziabler Tatzusammenhang zwischen Chat und Suizid zu erkennen sei und auch nicht behauptet werde. Gleichwohl schilderte er anschliessend wort- und detailreich, wie der Junge das Mädchen manipuliert hatte.
Aus Sicht des Rechtsanwalts sollte das Gericht das Herauspressen der Bilder als sexuelle Nötigung würdigen. Wenn auch das Erzwingen von Zungenküssen unter diesen Begriff falle, könne dies auch bei Bildern der Fall sein, die «der hormonellen Aneignung geeignet» seien, sagte er. Zumal sich mit Smartphone eine virtuelle Nähe herstellen lasse, die einer realen ähnlich sei. Ausserdem forderte er für seine Klienten eine Genugtuung von 5000 Franken, welche die Eltern des Beschuldigten bezahlen sollten. Das Geld würde für den Kampf gegen Cybermobbing verwendet.
Die Jugendanwältin und der Verteidiger widersprachen. Das Mädchen sei weder zu beischlafähnlichen noch anderen sexuellen Handlungen gezwungen worden, bekräftigten sie in ihren Plädoyers. Das geforderte und gesendete Bildmaterial sei erotischer Natur gewesen; die Rede war von Aufnahmen in Unterwäsche. Es seien keine Hinweise auf Nacktfotos gefunden worden, betonte die Jugendanwältin.
Das Dietiker Jugendgericht bestätigte den Strafbefehl in allen Punkten. Der Gerichtspräsident hielt bei der mündlichen Urteilseröffnung ausdrücklich fest, man habe keinen Fall von Cybermobbing oder die Chats der zweiten Beschuldigten zu beurteilen gehabt. Es sei einzig um die Handlung gegangen, mit der Céline zum Senden der Bilder veranlasst worden sei.
Aus Sicht des Gerichts handelte es sich dabei nicht um sexuelle Nötigung. Weder der Bildinhalt noch das Senden reichten für eine solche Qualifikation aus. Hierfür hätte das Opfer gezwungen werden müssen, körperlich tätig zu werden.
Die Richter ordneten für den heute 17-Jährigen eine persönliche Begleitung an und sprach als Strafe eine persönliche Leistung von sieben Tagen aus, wobei der Vollzug von drei Tagen aufgeschoben wird. Der Gerichtspräsident erinnerte daran, dass der Strafrahmen zehn Tage beträgt, und fügte an, es sei nicht Sache des Gerichts, zu beurteilen, ob dies angemessen sei. Die Forderung nach einer Genugtuung wurde abgewiesen.
Paragraf für Cybermobbing gefordert
Sichtlich enttäuscht verliessen Célines Eltern den Gerichtssaal, noch bevor der Richter die Urteilsbegründung beendet hatte. Gewiss ist, dass sie ihre politische Kampagne fortsetzen wollen, mit der sie die Einführung eines Straftatbestands Cybermobbing fordern. Es soll die Antwort auf ein Phänomen sein, das auch jenseits ihres Falls Schlagzeilen gemacht hat.
Denn Mobbing unter Jugendlichen hat sich in den letzten Jahren zunehmend vom Pausenplatz in die sozialen Netzwerke verschoben. Dort agieren sie häufig, ohne an allfällige Konsequenzen zu denken. Für die Opfer sind die digitalen Übergriffe oft dramatisch, weil sie einer breiten Öffentlichkeit zugänglich sind und sich nur schwer wieder zum Verschwinden bringen lassen. Zudem sind Snapchat, Instagram oder Tiktok wichtig für das Selbstbild der Jugendlichen. Im Cyberspace zeigt sich, wer beliebt, wer stark ist. Die Gründe für das Mobbing sind dabei aber durchaus dieselben wie vor der Smartphone-Ära: Es geht meist um Eifersucht, Frust oder Neid.
Smartphones und Social Media spielen daher inzwischen auch bei Strafuntersuchungen gegen Jugendliche eine zentrale Rolle. Die strafrechtliche Verfolgung der Täterinnen und Täter erfolgt hierzulande aber über zahlreiche Bestimmungen des Strafgesetzbuchs – unter anderem fallen Delikte wie Erpressung, Nötigung, Beschimpfung sowie Verleumdung und Drohung darunter.
Laut den letzten verfügbaren statistischen Angaben aus dem Jahr 2018 ist die Zahl der Ehrverletzungen, Drohungen und Nötigungen zwar leicht zurückgegangen. Sie fanden teilweise sogar wieder vermehrt offline statt. Doch die Fallzahlen sind tief und die Dunkelziffer hoch, weil viele Opfer den Gang zur Polizei aus Angst und Scham scheuen. Von einem allgemeinen Rückgang beim Mobbing kann daher nicht gesprochen werden.
«Die Tat beim Namen nennen»
Für die Eltern von Céline, Nadya und Candid Pfister, ist deshalb klar: Die Paragrafen zu Nötigung, Drohung und Beschimpfung reichen heutzutage nicht mehr aus. «Die Gesetze wurden gemacht, als es noch keine Handys gab, geschweige denn Social Media», sagte Nadya Pfister in einem Gespräch vor dem Prozess in Dietikon. «Die Richter dürfen sich nicht mehr hinter Paragrafen verstecken, die Cybermobbing mit keinem Wort erwähnen. Man muss die Tat beim Namen nennen.»
Die Eltern kritisieren auch die Jugendstaatsanwaltschaft. Weil die ersten zwei Verfahren gegen die jugendlichen Täter separat geführt wurden, habe der Fall weniger gravierend gewirkt. Der Kausalzusammenhang zwischen dem Cybermobbing und dem Selbstmord sei so nicht deutlich geworden. Die kurzen Arbeitseinsätze als Strafe hätten zudem ein falsches Signal gesendet, sagte die Mutter. «Die Jungen denken, sie können machen, was sie wollen, und es wird nicht geahndet oder nur milde bestraft.»
Als Vorbild dient den Eltern Österreich. Dort gibt es seit Anfang 2016 einen eigenen Paragrafen zu Cybermobbing. Strafbar macht sich, wer eine Person während längerer Zeit vor Publikum in der Ehre verletzt oder intime Bilder oder Tatsachen wahrnehmbar macht. Ein Verstoss kann mit einer Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr geahndet werden. Bei einem Suizid des Opfers erhöht sich der Strafrahmen auf drei Jahre.
Angezeigt wurden 2018 überwiegend Erwachsene, wie ein Blick in die österreichische Kriminalstatistik zeigt. Insgesamt wurde gegen 316 Tatverdächtige ermittelt. Unter ihnen waren 91 Minderjährige. Die Aufklärungsquote liegt bei 75 Prozent.
Um Cybermobbing auch im Schweizer Strafgesetzbuch festzuhalten, haben die Eltern angekündigt, eine Initiative zu lancieren. Sie seien bereits mit zahlreichen Politikerinnen und Politikern in Kontakt getreten, sagte die Mutter. «Es macht uns Hoffnung, dass Cybermobbing ein parteiübergreifendes Thema ist. Ich bin überzeugt, dass eine Initiative eine gute Chance hat.»
Geteilte Meinungen
Bei Strafrechtlern stösst der Vorschlag auf geteilte Meinungen. Laut Daniel Jositsch, SP-Ständerat und Strafrechtsprofessor an der Universität Zürich, sind die strafbaren Handlungen beim Cybermobbing im Wesentlichen bereits durch die klassischen Straftatbestände der Nötigung, Drohung oder Beschimpfung abgedeckt.
Einige Rechtsexperten können der Idee eines solchen Paragrafen dennoch etwas abgewinnen – vor allem wegen seiner symbolischen Bedeutung. Ein neuer Straftatbestand könne eine präventive Wirkung haben und das Bewusstsein in der Gesellschaft für die Thematik steigern, heisst es vonseiten der Befürworter. Davon hält Jositsch allerdings wenig. Es sei nicht sinnvoll, mit dem Strafrecht pädagogische Ziele zu verfolgen. «Die präventive Wirkung des Strafrechts entfaltet sich ohnehin erst mit der Durchsetzung des Rechts.»
Jositsch hat deshalb einen anderen Vorschlag. «Bei den meisten Delikten sprechen Richter nur tiefe Strafen aus, obwohl sie einen grösseren Handlungsspielraum hätten», sagt der Professor. Statt einen neuen Straftatbestand zu schaffen, wären in seinen Augen deshalb strengere Strafen zielführender, um ein Zeichen gegen Cybermobbing zu setzen.
26.02.2020 / Quelle: www.nzz.ch
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